Wie können 62 Grabsteine für Zwangsarbeiter verschwinden?

Das Ehrenmal auf dem Kommunalfriedhof an der Waldstraße mit den Grabsteinen der dort beigeetzten Zwangsarbeiter. Foto:  Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.

Das Ehrenmal auf dem Kommunalfriedhof an der Waldstraße mit den Grabsteinen der dort beigeetzten Zwangsarbeiter vor dem Jahr 2002. Foto: Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.

In einer am 21. Juni 2000 verabschiedete Resolution der Stadtverordneten der Stadt Hattingen wird die Stadtverwaltung aufgefordert, „alles zu tun, um das Schicksal der Zwangsarbeiter in Hattingen mit Hilfe der Bürgerinnen und Bürger weiter zu erforschen und zu dokumentieren.“ Die große Ausstellung „Zwangsarbeit in Hattingen“ im Jahre 2003 stellte in diesem Sinn zahlreiche Einzelschicksale in den Mittelpunkt. Über 10.000 Menschen, untergebracht in fast 100 Lagern, mussten während des Zweiten Weltkrieges in Hattingen Zwangsarbeit leisten – und vielen von ihnen starben in Hattingen an Erschöpfung und Unterernährung oder wurde kaltblütig ermordet.

Die Situation auf dem Friedhof Waldstraße Anfang April 2014. Foto:  Lars Friedrich

Die Situation auf dem Friedhof Waldstraße Anfang April 2014. Foto: Lars Friedrich

Zur Vorbereitung der Ausstellung „Kriegs- und Kriegerdenkmäler der Stadt Hattingen“, die der Heimatverein im Jahr 2014 in seinem Museum im Bügeleisenhaus (MiBEH) zeigt, habe ich nahezu alle Grabstätten gefallener Soldaten, Zivilisten und Zwangsarbeiter im Gebiet der neuen Stadt Hattingen besucht. Dabei musste ich am Zwangsarbeiterdenkmal auf dem städtischen Friedhof an der Waldstraße feststellen, dass die steinernen Namenstafeln auf den 34 Gräbern der aus Russland, Polen und Frankreich stammenden Toten verschwunden waren. Da ich wenige Tage zuvor noch mit Bürgermeisterin Dr. Dagmar Goch im Rahmen einer Fotoausstellung im Rathaus über das Thema Erinnerungskultur und Vergänglichkeit gesprochen hatte, wollte ich am 7. April von ihr wissen, was aus den Grabsteinen der Zwangsarbeiter wurde.

Die Grabsteine für Zwangsarbeiter auf dem katholischen Friedhof an der Blankensteiner Straße. Foto: Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.

Die Grabsteine für Zwangsarbeiter auf dem katholischen Friedhof an der Blankensteiner Straße. Foto: Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.

Nach mehreren Zwischeninformationen zum Stand der Recherche erhielt ich nun am 28. Mai eine Antwort – aus dem Fachbereich Stadtbetriebe und Tiefbau. Fachbereichsleiterin Solveig Holste schreibt, dass es „ca. 2002“ einen Ortstermin mit dem für den Friedhof zuständigen Vorarbeiter und einem Vertreter des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge gab, bei dem „vom Vertreter des Volksbundes entschieden (wurde), die Gedenktafeln zu entfernen, die Fläche zu begradigen und eine Raseneinsaat vorzunehmen.“ Der Grund für diese Maßnahme: „Auf dem überwiegenden Teil der Gedenktafeln (waren) die Namen und andere Informationen nicht mehr lesbar.“ Gleichzeitig wurden aus gleichem Grund auch die 28 Gedenktafeln für Zwangsarbeiter auf dem katholischen Friedhof Blankensteiner Straße entfernt. Alle entfernten Grabtafeln wurden zunächst hinter der Materialgarage des Friedhofes Waldstraße gelagert. Hier verliert sich ihre Spur…

Die Situation auf dem Friedhof an der Blankensteiner Straße Anfang Juni 2014. Foto: Lars Friedrich

Die Situation auf dem Friedhof an der Blankensteiner Straße Anfang Juni 2014. Foto: Lars Friedrich

Bei einer auf meine Anfrage organisierten Ortsbesichtigung am 16. April 2014 waren auf dem Friedhof Waldstraße noch vier Steinplatten aufzufinden – Form und Schrift (1958) entsprachen jedoch nicht den verloren gegangenen Zwangsarbeitertafeln. So kam die Stadtverwaltung zu dem ernüchternden Bescheid: „Über den Verbleib der ursprünglichen Namenstafeln kann trotz umfangreicher Nachfrage leider keine Aussage mehr getroffen werden.“ Am Pfingstsonntag habe ich beim Landesgeschäftsführer des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge nachgefragt, ob 2002 tatsächlich von einem Verbandsvertreter die Vernichtung von 62 Gedenktafeln für die in Hattingen verstorbene Zwangsarbeiter angewiesen worden sei. Am Dienstag nach Pfingsten kam bereits die Antwort von Peter Bülter: „Mir liegt ein Vermerk über die Begehung der Hattinger Kriegsgräberstätten vom 9. Juli 2002 vor, an der neben dem Vertreter des Volksbundes je ein Vertreter der Bezirksregierung Arnsberg, des Ennepe – Ruhr – Kreises und der Stadt Hattingen teilgenommen haben. Zum städtischen Friedhof Hattingen- Mitte ist hier festgehalten: Auf den Grabstellen liegen Platten, deren Beschriftung nicht mehr lesbar ist. Zum katholischen Friedhof Blankensteiner Straße heißt es hier:  Im 3. Bereich liegen entlang der mit einer Steinkante abgegrenzten Wege unleserliche Kissensteine aus Beton. Eine Erneuerung der Steine ist erforderlich.“ Zumindest im zweiten Fall wird also klar darauf hingewiesen, dass die Steine erneuert werden müssen. Auf meine überspitzte Frage, ob der Volksbundvertreter die Vernichtung der Gedenktafeln für die in Hattingen verstorbene Zwangsarbeiter angeordnet habe, schreibt mir der Landesgeschäftsführer: „Generell ist zu sagen, dass der Volksbund eine solche Entscheidung nicht treffen könnte, da wir im Inland lediglich eine beratende Funktion haben und Kriegsgräber gemäß Gräbergesetz ein Grabzeichen erhalten auf denen die Lebensdaten und bei ausländischen Kriegstoten die Nationalität zu verzeichnen sind.“ Und wie geht es nun weiter? Peter Bülter, Landesgeschäftsführer des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. in Nordrhein-Westfalen, hat umgehend einen Mitarbeiter beauftragt, sich mit der Hattinger Stadtverwaltung in Verbindung zu setzen: „Sofern die Stadt Hattingen aufgrund des Vermerkes aus dem Jahr 2002 die Grabkennzeichnungen irrtümlich ersatzlos entfernt hat, müssen diese wieder hergestellt werden!“ Das sehe ich auch so. Wer sich aktuell über das Schicksal der Hattinger Zwangsarbeiter informieren möchte, dem empfehle ich das Buch „Zwangsarbeit in Hattingen“ von Anja Kuhn und Thomas Weiß. In dieser Veröffentlichung des Landschaftsverbandes Westfalen Lippe ist auf Seite 146 der Grabstein einer Ostarbeiterin mit dem nach § 2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Gräbergesetz festgelegten, deutlich lesbaren Schriftzug UNBEKANNT auf dem Kommunalfriedhof an der Waldstraße zu sehen – aufgenommen im Dezember 2002 und damit am Ende jenen Jahres, in dem nach Mitteilung der Stadt entscheiden wurde, die Tafeln auf Grund schlechter Lesbarkeit zu entfernen und das Feld mit den Einzelgräbern in eine leicht zu pflegende Rasenfläche umzugestalten.

Im Dezember 2002 fotografierte Susanne Geertsen das Grab einer unbekannten Ostarvbeiterin auf dem kommunalen Friedhof an der Waldstraße. Foto: StAG/ Zwangsarbeit in Hattingen, LWL 2003

Im Dezember 2002 fotografierte Susanne Geertsen das Grab einer unbekannten Ostarvbeiterin auf dem kommunalen Friedhof an der Waldstraße. Foto: StAG/ Zwangsarbeit in Hattingen, LWL 2003

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